Autor und Fotograf: Wildmeister Patrick Rath
Bild 1: Aufmacher
Gummipirsch
Ich rolle im Jagdwagen mit meinem Jagdherrn über die Schotterpisten der Wittgensteiner Wälder. Wir sind nicht unterwegs, um zur Jagd zu gehen, wir wollen uns einen Überblick über unsere frisch verfegten Rothirsche machen. Bei einer Reviergröße jenseits der 10.000 ha erscheint es nur zu verständlich, dass man alleine mit bloßem Ansitzen nicht alles mitbekommt, schwer zugängliche Ecken des Reviers einmal ausgenommen. Wenn man in der glücklichen Lage ist, derartig große Fläche zu bewirtschaften, das Wild auf Grund geringen Jagd- und Erholungsdrucks tagaktiv unterwegs ist und Autos nicht als potentielle Gefahr kennt, hat die Gummipirsch durchaus ihren Reiz und ihre Berechtigung im Rahmen der Revierbetreuung.
Wir steuern über eine kleine Kuppe und auf der rechten Seite in etwa 150m Entfernung steht ein achtköpfiges Rudel Feisthirsche im Buchenbestand und äst an der Hainsimse. Sie werfen auf und ziehen langsam ohne Hektik von uns weg. Sofort gehen die Ferngläser hoch und los geht die „Sortiererei“. Da zwei junge Kronenhirsche, ein Achter, ein Eissprossenzehner, zwei mittelalte Zukunftshirsche und dann noch zwei „alte Bekannte“. „Das Wagenrad“ und „der Büffel“ sind mit im Rudel. Wir kennen Sie seit vielen Jahren und in diesem Jahr haben sie sicher den 12. Kopf erreicht. Doch bis zur Brunft sind es noch einige Wochen und da wir genau wissen, wo sie sich dann aufhalten, haben sie jetzt nichts zu befürchten.
Am erlegten Hirsch
Der Jagdgast ist glücklich über die Erlegung seines Erntehirsches. Etliche Male haben wir es probiert, aber nie kam der Gesuchte in Anblick oder er stand nicht so, dass man ihm die Kugel hätte antragen können. Am zur Strecke gelegten Hirsch erzählt er voller Freude über seine Erlebnisse der letzten Tage. Am Rande höre ich, wie er zu seinen Freunden sagt: „Dann hat der Rath gesagt, das ist der und der, der ist so und so alt, der passt nicht, dem fehlen noch ein paar Jahre. So ging das immer wieder. Ich dachte schon, der will mich verkohlen. Jetzt liegt der Hirsch hier vor uns und er kann es an Hand der Abwurfreihe auch noch beweisen, dass es der Gesuchte ist! Es ist schon beeindruckend, all diese Hirsche zu kennen und vor allem wiederzuerkennen!“
Wiedererkennen
Sicherlich wird der ein oder andere Grünrock die oben beschriebenen Szenen, so oder so ähnlich, schon selbst einmal erlebt haben. Für viele ist es aber nicht ganz alltäglich und selbstverständlich, wie das mit dem Erkennen und Wiedererkennen von Hirschen so vor sich geht. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Revier 300 ha oder 3000 ha groß ist. Sicherlich ist es in großen Revieren einfacher, einzelne Stücke bei ihrem Wechselverhalten zu beobachten und ihre Routen zu verfolgen. Das Erkennen von Hirschen beginnt aber mit den ersten, wenn auch nur kurzen oder zeitlich begrenzten Beobachtungen (z.B. Feisthirschreviere; Brunftreviere).
Um sich Hirsche zu „merken“, braucht man entweder ein gutes fotografisches Gedächtnis, eine gute Kamera, Videokamera oder vielleicht auch eine Wildkamera. Ich persönlich bin ein fauler Fotograf und so schicke ich gerne meinen sehr ambitionierten Hobbyfotografen, der bereits Rentner ist, um gutes Bild- und Videomaterial verschiedener Hirsche zu allen Jahreszeiten zu sammeln. Die Ergebnisse zusammengetragen geben einen guten Überblick über das Raum-Zeitverhalten einzelner Individuen. Denn auch die Aufenthaltsstandorte verraten über Jahre hinweg, um wen es sich handelt.
Im Übrigen gilt das auch für das Kahlwild. Gerne nutze ich die guten Bilder zur Unterweisung unserer Azubis, oder wenn mir jemand bei der Jagdgastführung behilflich sein soll. Ein paar Bilder in der Jackentasche sind eine enorme Erleichterung für die an anderen Stellen im Revier „spekulierenden“ Helfer.
Markante Merkmale
Einige Reviernachbarn haben schon gefragt: „Hör mal, hast du den 16-Ender schon mal gesehen, den mit den dicken Stangen, oder den ungeraden 12-er! Kennst Du die!“ Gut gemeint sich auszutauschen. Leider kann ich erst mal sehr wenig mit diesen Aussagen anfangen. Die Beschreibung ist zu allgemein. Ich persönlich zähle vorerst keine Enden. Ich merke mir das Bild des Hirsches. Seinen kompletten Geweihaufbau und ich suche nach auffälligen Merkmalen seines Körpers.
Geweihaufbau bedeutet nicht nur Enden zählen. Hier geht es um den Schwung der Hauptstange, der im Wesentlichen von Jahr zu Jahr gleich bleibt. Wie steht die Stange auf dem Schädel (steil, flach, eng oder weit). Die Ansätze und Winkelstellungen von Aug-und Mittelsprosse, sowie ihre Längen zueinander sind ebenfalls wichtige Kriterien bei der Wiedererkennung. Manchmal sind Verformungen der Stangen und Enden nicht Einflüsse von außen (Verletzungen), sondern gehören zum charakteristischen Wuchsbild des Hirschgeweihes. Kronenbilder können sich verändern (Anzahl der Enden), aber ihre Grundstruktur bleibt, z.B. tiefe Wolfssprosse, Becherkrone oder sternförmige Kronenenden zur Seite etc.. Man sucht also nach etwas Markantem oder Speziellem.
Gesamteindruck
Nun macht es einem ein „Allerweltszwölfer“ vielleicht nicht ganz so einfach, etwas herauszuarbeiten. Hier liegt die Aufmerksamkeit eher bei den Merkmalen des Körpers. Hat er vielleicht eine besondere Deckenfärbung, sind noch Kälberflecken zu erkennen, hat er alte Verletzungen oder Narben. Auch am Haupt kann man viel ablesen. Ich schaue mir gerne mit 20-facher Vergrößerung die Lichter und die Partie darum herum an. Der eine hat vielleicht ein Licht blind, der andere „Glupschaugen“ oder, wie es bei uns manchmal vorkommt, eine andere Farbe der Iris. Nicht alle Hirsch- und Kahlwildhäupter sind gleich. Einfache Wiedererkennungsmerkmale sind natürlich auch die Lauscher, die mal ausgefranst, eingeschlitzt oder gekürzt sein können.
Abwurfstangen
Das non plus Ultra sind natürlich Abwurfstangen und dessen Serien zu einzelnen Hirschen. Wer sie hat, hat es noch am einfachsten. Sie liefern über die Jahre nicht nur die genaueste Voraussetzung zur Altersbestimmung, sie werden zum Bindeglied zwischen Heger und Hirsch.
Durch das ständige betrachten der Stangen, gehen einem die Merkmale in Fleisch und Blut über. Und auch der berühmte Alterssprung vom jungen zum mittelalten Hirsch bleibt einem nicht verborgen. Dieser Sprung vollzieht sich, wenn der Hirsch körperlich ausgewachsen ist (etwa 6.-7. Kopf). Dann hat er mehr Energie für das Geweihwachstum zur Verfügung und manchmal hat man Schwierigkeiten ihn richtig zuzuordnen. Ein Blick auf die Petschaft (der „sichtbare Fingerabdruck“ eines Hirsches) gibt dann Aufschluss. Der Hirsch ist somit nicht mehr fremd, sondern wieder greifbar und erlebbar. Auf Grund dieser Beziehung werden vielen Hirschen auch Namen gegeben, die ein Wiedererkennen vereinfachen und die besondere Verbindung ausdrücken sollen.
Abwurfstangensammlung
Ich habe das große Glück, eine sehr umfangreiche Sammlung an Abwurfreihen betreuen zu dürfen. Mein „Memory für Große“ verschlingt jedes Jahr eine Menge Zeit, aber am Ende macht es sehr viel Freude, einzelne „Werdegänge“ nachvollziehen zu können.
Beste Voraussetzung für erfolgreiches, fast lückenloses Zusammentragen von Abwurfstangen, ist eine gut angenommene Winterfütterung, dessen Tages- und Nachteinstände konsequent beruhigt sind, d.h. im Idealfall sind die Fütterungsbereiche und ihre Umgebungen für Besucher in dieser Zeit gesperrt oder so versteckt angelegt, dass größtmögliche Ruhe herrscht. Gesucht wird auch nicht planlos. Nur wenn sichergestellt ist, dass sich kein Wild im Einstand aufhält, wird der Bereich bei günstigem Wind betreten.
Illegale Stangensucher
Eine große Geisel des Reviers sind, in der Zeit der Hornung, die illegalen Stangensucher, die auch gerne mal mit Stirnlampen auf den Wechseln die Einstände betreten. Diese zu erwischen, ist nicht einfach, aber man muss versuchen, es den Leuten zu verleiden. Der illegale Stangensucher kommt gerne früh morgens oder am späten Abend, am Wochenende liebt er die Mittagszeit, da er glaubt, der Heger würde daheim bei der Familie sitzen.
Tipp: Versuchen Sie mit guten Helfern einige dieser Zeiträume abzudecken und zeigen Sie so Revierpräsenz!
Übrigens die schlimmsten „Wilderer“ habe ich in meinem Revier zu Verbündeten gemacht. Es war damals bekannt, wer unerlaubt sucht und den Keller voller Stangen hat. Nach einigen klärenden Gesprächen war der Reiz des Verbotenen erloschen. Heute suchen sie auf Anweisung und liefern brav ab. Ab und an schießt mal einer über das Ziel hinaus, aber auch der ist wieder schnell eingefangen. Als „Dankeschön“ steht die Zusage, nach der Erlegung eines Hirsches die katalogisierten Stangen zurück zu bekommen. Wer verluderte Hirsche findet, kann sicher sein, sie nach der Hegeschau behalten zu dürfen.
Gelegentlich veranstalten wir zusammen mit den Reviernachbarn eine Stangenschau mit Bier und Grillgut, zu der die Stangensucher gerne gesehen sind. Auch der Anreiz, Wildbret etwas günstiger zu erwerben, stärkt die Bindung des ehemaligen Wilderers an den Betrieb.
Miteinander arbeiten in der Hegegemeinschaft
Fazit: Hirsche wiederzuerkennen ist keine Hexerei. Doch wie so oft, liegt der Schlüssel zum Erfolg nicht nur in einer Sache begründet. Man sollte sich Zeit nehmen und für seine Revierverhältnisse einen Weg finden. Nicht jeder wird Abwurfstangenreihen zusammentragen können. Rotwild zieht mitunter weit und deshalb ist ein guter Kontakt zu den Reviernachbarn oder den Mitgliedern einer Hegegemeinschaft untereinander enorm wichtig. Der Austausch untereinander hilft und fördert die Freude am Ganzen. Auch hat nicht jeder einen „Starfotograf“ an der Hand, aber das genaue Beobachten kann jeder erlernen. Vielen von uns ist es nur abhanden gekommen, da wir zu oberflächlich geworden sind. Gönnen Sie sich und dem Wild Ruhe. Nehmen Sie sich die Zeit bei der Jagd und bei der Beobachtung „Ihres“ Wildes- um das Besondere zu enddecken.